Jürgen Pasche (2010)
Ester Pur
ein Bibelstück über uns Menschen
(einige Textformulierungen sind aus der „Guten Nachricht“ von 1977 entnommen)
Chronist
Wir befinden uns im Persischen Reich zur Zeit des Königs Xerxes, knapp 500 Jahre vor Christus. Das Reich bestand aus 127 Provinzen und reichte von Indien bis nach Äthiopien. Viele Völker und viele Sprachen prägten das große Staatsgebilde. Die Rückkehr der einst nach Babylonien verschleppten Juden war längst abgeschlossen. Dennoch waren zahlreiche Juden zurückgeblieben, hatten sich integriert und lebten weitgehend unangefochten im großen persischen Reich. Dieses wurde regiert von Susa aus, einer der ältesten Städte der Welt, die noch heute im westlichen Iran existiert.
Seit drei Jahren regierte Xerxes, und das feierte er sechs Monate lang mit üppigen Festen. Auch die Bevölkerung von Susa durfte mitfeiern. Die Königin Waschti aber veranstaltete zur gleichen Zeit ein Fest nur für Frauen. Da befahl während eines Gelages König Xerxes in seiner Weinlaune:
Xerxes
Bringt mir die Königin her – nur im Schmuck ihrer Krone. (alle lachen) Dann könnte ihr alle hier sehen, was für eine schöne Frau ich habe!
Chronist
Aber die Königin weigerte sich, dem Befehl des Königs zu gehorchen. Es war für sie unter ihrer Würde, sich als Schauobjekt den Männern zu zeigen. So fragte Xerxes seine männlichen Festgäste:
Xerxes
Was soll ich nur machen? Was soll mit ihr geschehen?
Hofbeamter
Du musst dich von ihr trennen! Stell dir vor, solch ein Verhalten wird in deinem Reich Mode? Dann haben die Frauen ja keinen Respekt mehr vor ihren Männern!
Chronist
So ließ der König in einem Erlass in allen 127 Provinzen verkünden, dass er sich von Königin Waschti wegen ihres ungebührlichen Verhaltens trenne, damit sichergestellt sei, dass jeder Mann in seinem Hause der Herr bleibe.
Hofbeamter
Großer König, nun solltest im ganzen Land nach schönen jungen Mädchen suchen lassen, die noch kein Mann berührt hat. Sie sollten nach Susa in das Frauenhaus gebracht werden. Dort könntest du dann sehen, welche dir am besten gefällt und diese zur neuen Königin machen.
Xerxes
Das ist ein guter Vorschlag, so soll es auch geschehen.
Chronist
In der Nähe des Palastes von Susa lebte ein Jude mit Namen Mordechai. Er hatte eine Nichte mit Namen Ester. Sie hatte ihre Eltern verloren und war von Mordechai als Tochter angenommen worden. Diese wurde – es war sicher eine Ehre für sie – auch nach Susa gebracht. Einem Eunuchen, der für die Pflege der schönen jungen Mädchen verantwortlich war, fiel Ester sofort wegen ihrer Schönheit auf und wurde von ihm mit besonderer Sorgfalt behandelt. Auf Anweisung ihres Pflegevaters Mordechai hatte Ester aber nichts von ihrer jüdischen Herkunft gesagt.
Die Mädchen wurden eine nach der anderen zu König Xerxes geführt. Keine durfte ein zweites Mal kommen. Dann kam die Reihe an Ester.
Xerxes
Wer bist du? Wo kommst du her?
Ester
Ich bin Ester und komme aus dieser Stadt Susa.
Chronist
Ohne weiter nach ihrer Herkunft und Verwandtschaft zu fragen, sprach Xerxes, hingerissen von Esters Schönheit:
Xerxes
Du übertriffst alle anderen Mädchen an Schönheit. Dein Auftreten ist trotzdem bescheiden und nicht aufdringlich. Du sollst meine neue Königin werden!
Chronist
Er setzte ihr die Krone auf und gab ihr zu Ehren ein großes Festmahl, senkte die Steuern und verteilte königliche Geschenke. Aber Ester erzählte auch Xerxes nichts von ihrer jüdischen Herkunft. Mordechai, der auch in königlichen Diensten stand, erfuhr eines Tages etwas sehr Wichtiges, was er unverzüglich seiner Nichte und Pflegetochter und jetzt also der neuen Königin mitteilte.
Mordechai
Stell dir vor, Ester: als ich kürzlich in der Torhalle des Palastes saß, hörte ich, wie zwei Hofbeamte sich verschworen, weil sie mit dem König nicht zufrieden waren, dass sie den König umbringen wollen. Du musst unverzüglich den König davon unterrichten!
Ester
Wie gut, dass du mir das gesagt hast. Ich werde sofort den König unterrichten. Er wird bestimmt die Pläne aufdecken und die Verantwortlichen bestrafen.
Chronist
Und so geschah es. Die Pläne wurden aufgedeckt und die Verschwörer aufgehängt. Diesen Vorfall habe ich sorgfältig in dieser Chronik vermerkt.
Eines Tages machte der König einen Mann namens Haman zu seinem ersten Minister und Stellvertreter. Alle Hofbeamten mussten sich auf Befehl des Königs vor Haman verbeugen – was auch alle taten, bis auf Mordechai.
Hofbeamter
Warum gehorchst du nicht dem Befehl des Königs?
Mordechai
Weil ich Jude bin und mich nur vor meinem Gott verneige.
Hofbeamter
Aber du handelst dir doch bloß Ärger ein wegen so einer Kleinigkeit.
Mordechai
Für mich ist das keine Kleinigkeit, das ist eine Ehre, die nur Gott gebührt.
Chronist
Der Hofbeamte erzählte Haman auch von Mordechais Begründung. Da schäumte Haman vor Wut und wollte nicht nur den Juden Mordechai bestrafen, sondern beschloss, das ganze Volk der Juden, die im persischen Reich lebten, auszurotten.
(steht auf) Ist das nicht schrecklich? Haman – ein Antisemit, wie er im Buche steht, und der Initiator eines Holocaustes! Schon vor zweieinhalb tausend Jahren!
(setzt sich wieder)
Haman (zur Seite)
Ich habe das Pur – das ist das Los – geworfen, um den günstigsten Zeitpunkt für die Vernichtung der Juden herauszufinden. Es ist der 13. Tag des 12. Monats. Nun brauche ich nur noch die Erlaubnis des Königs.
(zum König gewandt) Es gibt in deinem Reich ein Volk, das über alle Provinzen zerstreut lebt und sich von anderen Völkern absondert. Seine Bräuche sind anders als die aller anderen Völker und – was das Schlimmste ist – es befolgt die königlichen Gesetze nicht. Das kann sich der König nicht bieten lassen. Wenn der König einverstanden ist, soll der Befehl erlassen werden, sie zu töten. Ich werde dann sogar in der Lage sein, den Verwaltern der Staatskasse 10 000 Zentner Silber auszuhändigen.
Chronist
Der König zog seinen Siegelring von Finger, gab ihn dem Judenfeind Haman und sagte zum ihm:
Xerxes
Ihr Silber überlasse ich dir. Und mit ihnen selbst kannst du machen, was du willst.
Chronist
Der Erlass wurde als Schreiben des Königs abgefasst, mit seinem Ring gesiegelt, in alle Sprachen des Landes übersetzt und mit reitenden Boten ausgebreitet. Der Erlass lautete: „Alle Juden – Männer, Frauen und Kinder – sollen an einem einzigen Tag, dem 13. Tag des 12. Monats, ausgerottet werden. Ihr Besitz ist zur Plünderung freigegeben.“ Als der Erlass unterwegs war, ließen sich der König und Haman zu einem Trinkgelage nieder, die Stadt Susa und das ganze Reich aber gerieten in große Aufregung.
Als Mordechai das erfuhr, zerriss er sein Gewand, band sich einen Sack um und streute sich Asche auf seinen Kopf. Auch unter den Juden in den Provinzen herrschte ebensolche Trauer.
Als Ester von Mordechais Trauer erfuhr, ohne allerdings den Grund dafür zu kennen, ließ sie ihm durch einen Hofbeamten Kleider schicken, denn er durfte den Palast nicht in Trauerkleidung betreten.
Hofbeamter
Meine Königin, eben komme ich von Mordechai zurück und bringe dir die Abschrift eines königlichen Erlasses mit. Dieser befiehlt die Ausrottung der Juden und die Plünderung ihres Besitzes. Mordechai lässt dich bitten, zum König zu gehen und ihn um Gnade für sein Volk zu bitten.
Ester
Gehe noch einmal zu Mordechai und sage ihm, dass ich sehr erschrocken über diesen schlimmen Erlass bin. Aber es gibt ein Gesetz, dass niemand ungerufen zum König kommen darf, es sei denn, dieser streckt ihm sein goldenes Szepter entgegen, sonst muss er sterben. Der König hat mich schon 30 Tage nicht mehr zu sich rufen lassen.
Chronist
Mordechai ließ durch den Hofbeamten folgende Nachricht an Ester schicken:
Hofbeamter
Mordechai lässt dir sagen: Denk nur nicht, dass du im Königspalast dein Leben retten kannst, wenn alle anderen Juden umgebracht werden. Wenn du jetzt schweigst, hast du dein Leben verwirkt. Wer weiß, ob du nicht genau um dieser Gelegenheit willen zur Königin erhoben worden bist?
Ester
Geh zu Mordechai und sage ihm: Rufe alle Juden in Susa zusammen und haltet ein Fasten für mich. Drei Tage lang sollt ihr nichts essen und trinken. Ich werde dasselbe mit meinen Dienerinnen auch tun. Dann gehe ich zum König, auch wenn es gegen das Gesetz ist. Komme ich um, so komme ich um!
Chronist
Am dritten Tag des Fastens legte Ester ihre königlichen Kleider an und ging in den Palast zum Thronsaal des Königs. Dieser sah seine Königin Ester in der Tür stehen und streckte ihr das goldene Szepter entgegen. Ester trat heran und berührte dessen Spitze.
Xerxes
Was führt dich zu mir, Königin Ester? Was ist dein Wunsch? Ich gewähre dir alles, bis zur Hälfte meines Königreichs.
Ester
Mein König, wenn es dir recht ist, dann komm doch heute mit Haman zu dem Mahl, das ich für dich vorbereitet habe.
Xerxes
Schnell, holt Haman herbei, damit wir Esters Einladung folgen!
(Haman kommt hinzu, und man setzt sich zu Tisch)
Was ist nun dein Wunsch? Ich erfülle ihn dir. Fordere, was du willst, bis zur Hälfte meines Königreiches.
Ester
Ich habe eine große Bitte. Wenn ich deine Gunst, mein König, gefunden habe, und wenn du so gnädig bist, mir meinen Wunsch zu erfüllen, dann komm doch auch morgen mit Haman zu dem Mahl, das ich für dich vorbereiten werde. Dann will ich dir meinen Wunsch sagen.
Xerxes
Wir werden kommen, und ich bin schon sehr gespannt, welchen Wunsch du hast.
Chronist
Haman war in bester Laune, als er von dem Mahl bei der Königin nach Hause ging. Im Tor ging er an Mordechai vorbei, der nicht vor ihm aufstand und ihm nicht die geringste Ehrerbietung erwies. Haman wurde von Wut gepackt, aber er ging weiter. Zu Hause aber prahlte er vor seiner Frau und seinen Freunden:
Haman
Der König hat mich über alle Fürsten im Reich gestellt. Und die Königin hat zu dem Mahl, das sie veranstaltet hat, außer dem König nur noch mich eingeladen, und auch morgen soll ich zusammen mit dem König bei ihr essen. Aber das alles ist mir vergällt, solange ich den Juden Mordechai im Tor des Palastes sitzen sehe.
Hofbeamter
Lass einen Galgen errichten, zwanzig Meter hoch, und lass dir vom König die Erlaubnis geben, Mordechai daran aufzuhängen. Danach kannst du unbeschwert mit dem König zu dem festlichen Mahl gehen.
Chronist
Haman fand den Vorschlag ausgezeichnet und gab sofort Befehl, einen Galgen aufzurichten.
Der König aber konnte in dieser Nacht nicht schlafen, deshalb sprach er zu dem Chronisten:
Xerxes
Bring mir das Buch, in dem alle wichtigen Ereignisse meiner Regierungszeit aufgezeichnet sind. (liest) Hier steht – und ich erinnere mich noch gut – wie Mordechai eine Verschwörung gegen mich aufgedeckt hat. Was für eine Belohnung, was für eine Auszeichnung hat Mordechai eigentlich dafür erhalten?
Hofbeamter
Keine, mein Herr!
Xerxes (gibt das Buch zurück)
Da muss etwas geschehen. (horcht) Wer ist draußen im Hof?
Chronist
Es war Haman, der sich vom König die Erlaubnis geben lassen wollte, Mordechai an den Galgen zu hängen.
Xerxes
Ruft Haman herein! (Haman tritt ein, der König sieht ihn lange und eindringlich an) Was kann ein König für jemanden tun, dem er eine besondere Ehre erweisen will?
Haman
Lass mich nachdenken, mein König. (leise für sich) Da kann nur ich gemeint sein.
(laut) Für den Mann, dem der König eine besondere Ehre erweisen will, soll man ein kostbares Gewand bringen und ein Pferd des Königs mit dem königlichen Schmuck am Zaumzeug. Dann soll man den Mann über die Mitte des großen Platzes der Stadt führen. Ein Würdenträger soll vor ihm hergehen und rufen: So handelt der König an einem Mann, dem er eine besondere Ehre erweisen will!
Xerxes
Dann hole schnell ein Gewand und ein Pferd, wie du es beschrieben hast. Ehre damit den Juden Mordechai, so wie du es vorgeschlagen hast. Du musst alles genau so ausführen und nichts weglassen!
Chronist
Haman musste dem Befehl des Königs Folge leisten. Mit ohnmächtiger Wut, die er sich aber nicht anmerken lassen durfte, führte er den festlich gekleideten Mordechai über den Platz und musste auch noch ausrufen: So handelt der König an einem Mann, dem er eine besondere Ehre erweisen will! Danach eilte Haman völlig verstört, mit verhülltem Gesicht, nach Hause und berichtete seiner Frau und seinen Freunden, was geschehen war.
Hofbeamter
Wenn Mordechai, mit dem dir das passiert ist, zum Volk der Juden zählt, dann kannst du aufgeben. Dein Untergang ist besiegelt.
Chronist
Da kamen die Diener des Königs, um Haman zum Mahl bei der Königin abzuholen. Beim Wein richtete der König dieselbe Frage an Ester wie am Tag zuvor.
Xerxes
Was ist nun dein Wunsch, Königin Ester? Ich erfülle ihn dir! Fordere, was du willst, bis zur Hälfte meines Königreiches!
Ester
Wenn ich deine Gunst, mein König, gefunden habe und du mir eine Bitte erlauben willst, dann flehe ich um mein Leben und um das Leben meines Volkes. Man hat uns verkauft, mich und mein Volk, man will uns töten, morden, ausrotten!
Xerxes
Wer wagt so etwas? Wo ist der Mann, der so schändliche Pläne ausheckt?
Ester
Unser Todfeind ist dieser böse Haman hier!
Chronist
Haman blickte entsetzt auf den König und die Königin. Voll Zorn stand der König von der Tafel auf und ging in den Schlosspark hinaus. Haman trat auf Königin Ester zu und flehte um sein Leben. Er spürte, dass der König schon seinen Tod beschlossen hatte.
Als der König wieder in den Saal trat, fand er Haman kniend vor dem Polster, auf dem Ester saß. Empört rief er:
Xerxes
Jetzt tut er sogar der Königin Gewalt an, und das in meinem Palast! Du hast dein Leben verwirkt!
Hofbeamter
Da ist doch noch der Galgen, den Haman für Mordechai, den Retter des Königs, errichten ließ! Er steht auf Hamans eigenem Grundstück, er ist zwanzig Meter hoch!
Xerxes
Hängt Haman daran auf! (nimmt ihm den Siegelring ab, Hofbeamter führt Haman hinweg)
Chronist
So wurde Haman an den Galgen gehängt, den er selbst für Mordechai bestimmt hatte. Darauf legte sich der Zorn des Königs.
Noch am selben Tage schenkte der König der Königin Ester das Haus und den Besitz des Judenfeindes Haman. Er ließ Mordechai zu sich rufen, denn Ester hatte ihm berichtet, dass er ihr Onkel und Pflegevater sei. Der König zog seinen Siegelring, den er Haman abgenommen hatte, von der Hand und überreichte ihn Mordechai. Königin Ester machte ihn zum Verwalter von Hamans Besitz.
Ester
Wenn auch Haman jetzt bestraft ist, o König, so wende doch nun das Schicksal von uns und verschone mein Volk vor der Ausführung des Verbrechens, das Haman gegen die Juden geplant hat. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich ansehen muss, wie das Unheil seinen Lauf nimmt und mein eigenes Volk vernichtet wird.
Xerxes
Ich habe dir den Besitz Hamans geschenkt und ihn selber an den Galgen hängen lassen, weil er die Juden vernichten wollte. Aber ein Erlass, der im Namen des Königs abgefasst und mit seinem Siegelring gesiegelt ist, lässt sich nicht zurücknehmen. Ihr könnt jedoch in meinem Namen und mit meinem Siegel eine weitere Verfügung erlassen, um die Juden zu retten. Tut, was ihr für richtig haltet!
Chronist
Mordechai ging zum Schreiber des Königs und diktierte ihm einen Erlass an die Juden im ganzen Reich sowie an die Reichsfürsten, Statthalter und obersten Beamten aller 127 Provinzen von Indien bis Äthiopien, jeweils in der Schrift und Sprache des betreffenden Landes. Er enthielt folgende Verfügung:
Mordechai (diktiert dem Chronisten)
„Der König erlaubt den Juden in allen Städten seines Reiches, sich zum Schutz ihres Lebens zusammen zu tun und alle zu töten, zu vernichten und auszurotten, die ihnen und ihren Frauen und Kindern Gewalt antun wollen. Der Besitz ihrer Feinde wird den Juden zur Plünderung freigegeben. Diese Erlaubnis gilt für den 13. Tag des 12. Monats, den gleichen Tag, an dem nach dem alten Erlass die Ausrottung der Juden geschehen sollte.“
Wenn ich jetzt die berittenen Boten losschicke, dann wird endlich der Gerechtigkeit zum Durchbruch verholfen. Auge um Auge, Zahn um Zahn – so heißt es schon in den alten Schriften.
Chronist
Und so geschah es!
(Licht aus – Dämmerlicht – alle erscheinen in Alltagskleidung und setzen sich in eine Gesprächsrunde – Licht an)
Gerd
Das war ja ein gewaltsames und blutiges Ende der Geschichte!
Dorle
Das stimmt, aber so steht es aufgeschrieben in dem Buch über die Jüdin Ester.
Jürgen
Erwähnen aber sollte man noch, dass Mordechai und Ester nach dem Sieg über ihre Feinde einen weiteren Erlass losschickten, der die Juden aufforderte, jährlich ein Befreiungsfest zu feiern, weil ihr Los, das PUR, mit welchem Haman die Vernichtung der Juden beschlossen hatte, aufgehoben wurde. Noch heute heißt es deshalb bei den Juden das Purim-Fest.
Gernot
Gut, dass du das erwähnt hast, trotzdem macht uns doch heute, im 21. Jahrhundert, diese Art der Konfliktlösung erhebliche Probleme.
Thomas
Gewiss, aber in der damaligen Zeit war das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ schon ein gewaltiger Fortschritt und eine Eingrenzung der Rache.
Jürgen
Aber heute denken nicht nur wir Christen über andere Konfliktlösungen nach, in deren Mittelpunkt Gewaltlosigkeit, Toleranz und Kompromisse stehen.
Lena
Das ist sicher unbestritten. Aber dennoch frage ich mich, warum dieses Buch Ester überhaupt in der Bibel steht.
Thomas (nachdenklich)
Ich denke dabei z.B. an den König Xerxes, der – bei all seinen Schwächen, die er hatte – diese Toleranz geübt hat und einem Juden, also einem Ausländer, ein hohes Amt verliehen hat. Zwar hatte dieser ihm das Leben gerettet, trotzdem war sein Handeln ungewöhnlich.
Dorle
Es kam ihm offenbar auf den Menschen an, nicht auf seine Herkunft.
Jürgen
Und Mordechai, der fromme Jude? Er lässt sich aus seinem ruhigen Leben herausreißen, als er von der Lebensgefahr, in der sein König schwebt, hört. Später setzt er alles daran, sein Volk zu retten.
Lena
Bleibt noch Ester. Vom unbedarften Mädchen entwickelt sie sich zu einem Menschen, der sich selbst in Gefahr begibt, um ihr Volk vor Schlimmem zu bewahren.
Gerd
Sich für andere einsetzen, auch wenn es für einen selbst gefährlich, ja lebensgefährlich werden kann, das ist – glaube ich – ein Verhalten, das in Ansätzen auch schon vor 2500 Jahren möglich war und bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat.
Gernot
Auf einen Gedanken möchte ich noch hinweisen: Das Buch Ester ist auch eine von vielen Geschichten im Alten Testament, die von der Bewahrung des Gottesvolkes durch Gott selbst erzählt, obwohl das Wort „Gott“ in der Geschichte überhaupt nicht vorkommt. (zu Jürgen gewandt) Du hast es ihm in deiner Fassung allerdings zweimal in den Mund gelegt.
Jürgen
Ich wollte damit nur die Weigerung Mordechais, sich vor Haman zu verbeugen, begründen.
Thomas
Noch einmal zurück zur dem Gedanken: Gott hat sein Volk bewahrt! Gehören wir denn nicht alle – Christen und Juden – zu Gottes Volk, das er bewahren und begleiten will?
Dorle
Stimmt! Und damit hast du eine große Brücke geschlagen über zweieinhalb Jahrtausende. Diese Brücke verbindet uns mit all den Menschen vor uns und nach uns, die sich auf die Treue Gottes verlassen.
Lena (steht auf)
Ja – und um genau dies deutlich zu machen, haben wir dieses Stück gespielt.
(alle nicken und murmeln zustimmend, stehen auf und verbeugen sich)
Die Schenkung der Siedlung Wolfsanger und der Kirche St. Johannis Baptistae an das Kloster Kaufungen im Jahre 1019
(ein fiktives Gespräch, basierend auf historischen Tatsachen,
recherchiert, formuliert und aufgeschrieben von Jürgen Pasche, Kassel)
Ort: ein Empfangsraum im Bistum Paderborn
Zeit: 1019 n. Chr.
Personen: Kaiser Heinrich II. und Jutta, 1. Äbtissin des Klosters Kaufungen
Kaiser Heinrich II.: Willkommen hier in Paderborn, fromme Frau, im Jahre des Herrn 1019. Wie ich sehe, seid Ihr wohlbehalten angekommen, hier in den Räumen des Erzbischofs, der uns seine Gastfreundschaft gewährt hat.
Jutta: Dank für das Willkommen, gnädiger Herr und Kaiser. Ihr habt mich rufen lassen. Nun, ich bin gekommen und will hören, was Euer Begehr ist.
Heinrich: Wir, Heinrich, von Gottes ewig währender Güte römischer Kaiser, haben Euch, Jutta, die 1. Äbtissin des Klosters zu Kaufungen, zu uns nach Paderborn rufen lassen, um Euch eine Sache von großer Wichtigkeit mitzuteilen.
Jutta: Ich danke Euch für Eure Güte und bin gespannt, warum ich diese weite Reise auf mich nehmen musste, und warum ausgerechnet Paderborn das Ziel ist. Hat das etwas mit Eurer lieben Frauen, der Kaiserin Kunigunde, zu tun, die ja hier im Jahre 1002 durch den Erzbischof von Mainz zur deutschen Königin gekrönt wurde?
Heinrich.: Ihr seid gut unterrichtet, Frau Äbtissin, und Ihr habt recht. Seid froh, dass ich Euch nicht nach Rom gebeten habe, wo Kunigunde vor fünf Jahren durch Papst Benedikt VIII. Kaiserin und ich Kaiser wurde. Da wäre Eure Anreise noch länger gewesen! Aber nun zur Sache. Ihr wisst, dass die Kaiserin erst vor zwei Jahren Euer Nonnenkloster gestiftet hat, in dem Ihr jetzt nach den Regeln des Hl. Benedikt lebt. Es gab da ein Gelübde …
Jutta.: … verzeiht, dass ich Euch unterbreche. Ich weiß viel von der schweren Krankheit Eurer Gemahlin, die ja auch meine Tante ist. Die Bewohner der königlichen Pfalz, in deren Gebiet Ihr ja oft zur Jagd wart, erzählten mir immer voller Anteilnahme von der Krankheit und ihrem Gelübde, aus den Gebäuden der königlichen Pfalz ein Nonnenkloster errichten zu lassen, obwohl hier eigentlich ihr Witwensitz sein sollte. So hattet Ihr es 1008 verfügt.
Heinrich.: Genau so war es. Nun, die Kaiserin wurde wieder gesund – Gott sei es gedankt. Der Umbau zum Kloster ist gut voran geschritten, wie man hört. Auch mit dem Bau einer Kirche habt Ihr begonnen. Seit einem Jahr lebt Ihr nun im Kloster Kaufungen, allerdings mehr schlecht als recht. Der kleine Ort Kaufungen ist wohl kaum in der Lage, Euch und Eure Mitschwestern angemessen zu versorgen.
Jutta: Wohl wahr, aber das liegt nicht an den Leuten. Sie geben sich große Mühe, können uns aber nur wenig zukommen lassen. Wir haben hier zwar schöne Wälder – Ihr kennt sie ja von Euren früheren Jagdaufenthalten – , aber die wenigen Menschen, die kleinen Felder, das geringe Vieh – all das reicht vor allem für die Einwohner selbst gerade so aus. Ihr habt das alles sicher auch gesehen, als Ihr vor einigen Jahren (1011) hier wart, um in einem Dokument festzuhalten, dass Ihr Eure Leibeigene Willicuma dem Kloster Hersfeld geschenkt und überlassen habt. Woher ich das weiß? Ein Mann aus Eurem Hofstaat, der bei der Unterzeichnung dabei war, hat uns davon erzählt. Aber was die Kaufunger besonders erfreut hat, war die Tatsache, dass ihr kleiner Ort zum ersten Mal in einer kaiserlichen Urkunde erwähnt wurde. Auch das hat man mir oft mit Stolz erzählt.
Heinrich: Ja, aber das alles ist bereits Geschichte. Die Gegenwart allerdings sieht für Euch nicht so gut aus, deshalb haben wir beschlossen, Euch zu helfen. Nicht weit von Euch liegt die Siedlung Vulvisanger. Neben einigen Höfen gibt es dort auch eine kleine Kirche, die dem Täufer Johannes gewidmet ist. Die Gegend dort ist sehr fruchtbar. Der Fuldafluss sorgt mit seinen Überschwemmungen für guten Boden in seinem Uferbereich. Schon früh lebten deshalb hier Menschen, die allerdings Heiden waren. Der „Opferberg“, der „Metzelstein“ und der der Göttin Ostara geweihten „Osterbach“ zeugen bis heute von dieser Zeit. Aber Bonifatius und seine Begleiter haben hier sichtbar gewirkt und mit der Kirche auf dem Opferberg ein deutliches Zeichen gesetzt.
Jutta: Ich habe schon von diesem Vulvisanger gehört. Aber was hat diese Siedlung nun mit uns zu tun? Sicher, sie hat in den letzten 200 Jahren an Bedeutung gewonnen, ist reich geworden im Laufe der Zeit. Ich habe auch schon vernommen, dass die kleine Kirche St. Johannis Baptistae große Ländereien besitzt und bewirtschaftet. Im Geheimen habe ich mir oft gewünscht – mein Kaiser verzeihe mir meine Offenheit -, Kaufungen wäre so reich wie Wolfsanger. Dann könnte besser für das Kloster und die Nonnen gesorgt werden.
Heinrich: Womit wir wieder beim Grund für Euer Hiersein sind. Ich habe bereits eine Urkunde ausstellen lassen, in der die Siedlung und die Kirche Wolfsanger als Schenkung für das Kloster Kaufungen vorgesehen ist. Damit dürften Eure Sorgen ein Ende haben. Das alles geschieht auf Bitten der erhabenen Kaiserin Kunigunde, unserer liebwerten Frauen, deren Bitte wir hiermit gern erfüllen.
Jutta: Mir fehlen die Worte, mir fehlen sie vor Glück und Dankbarkeit. Untertänigst nehmen wir dieses Geschenk an. Aber – was sagen die Menschen in der Siedlung Wolfsanger und die Kirche St. Johannis Baptistae dazu?
Heinrich: Sie fühlen sich geehrt, dass sie aus ihrer Fülle abgeben dürfen an ein Kloster, welches unserer Kaiserin so ans Herz gewachsen ist. Kann man Wolfsanger eine größere Ehre erweisen? Außerdem erhält die Kirche und damit die gesamte Siedlung das Recht, an jedem Sonnabend einen Wochenmarkt abzuhalten, dazu noch um den Tag des heiligen Johannes des Täufers (24. Juni) einen dreitägigen Jahrmarkt.
Hiermit händige ich Euch die Urkunde über diese Schenkung aus. Sie ist bereits mit meinem kaiserlichen Siegel versehen. Als Zeugen haben gedient der Kanzler Gunther, der 1011 auch in Kaufungen mit dabei war, sowie Erkenbald, der Erzbischof und Erzkaplan. Und seht hier das Datum: Im Jahre der Fleischwerdung 1019 im 18. Jahr der Regierung Kaiser Heinrichs, ausgestellt zu Paderborn 1019.
Und nun nutzt dieses kaiserliche Geschenk, um das Ansehen des Klosters Kaufungen zu fördern. Euer Leben und Eure Arbeit stehen unter dem Segen Gottes und dem Schutz unserer kaiserlichen Macht. Und nun lebt wohl!
Jutta: Lebt wohl und seid gewiss, dass Ihr und Eure teure Gemahlin immer auf einen dankbaren Empfang hoffen dürft, wenn Ihr uns wieder – und hoffentlich bald – die Ehre Eures Besuches erweist. Noch einmal: Dank und Lebewohl!
erschienen 2011 im (k)KulturMagazin
Das ist typisch Wolfsanger: einerseits der älteste Stadtteil Kassels, andererseits aufgeschlossen allem Neuen gegenüber. Wir feiern, dass Wolfsanger vor 1200 Jahren erstmals erwähnt wurde. Wie alt das „Dorf“ wirklich ist, weiß niemand so genau. Wenn man nach der ersten Erwähnung in einer Urkunde geht (811), ist Wolfsanger gut 100 Jahre älter als Kassel (913). Darauf ist man stolz, und das wird gefeiert. Alles zum Fest findet man unter der als Überschrift angegebenen web-site.
Die erwähnte Urkunde von 811 befasst sich mit der Klärung eines Besitzerstreites und wurde von Karl dem Großen unter Nennung des Namens „Vulvisanger“ unterzeichnet. Das war der Ursprung, doch der Nebel der Geschichte lichtet sich nur hin und wieder, so z.B. gut 200 Jahre später, als Kaiser Heinrich II. die Kirche Wolfsanger mit ihren Ländereien dem Kloster Kaufungen schenkt, offenbar um die Versorgung des armen Klosters, das erst kurze Zeit vorher gegründet worden war, durch das wohlhabende Wolfsanger sicherzustellen. Daraus ist zu schließen, dass die Kirche im Laufe vieler Jahre zu Wohlstand gekommen war, sonst hätte sie wohl kaum als Geschenk eines Kaisers dienen können. Ein Vorgang, den wir uns heute kaum mehr vorstellen können, gäbe es da nicht diese Urkunde – heute sicher in einem Archiv verwahrt, aber auch in Messing geritzt und im Vorraum der Kirche hängend. Diese merkwürdige Schenkung wird als kleine Theaterszene lebendig und in der „Nacht der offenen Kirchen“ am 17. Juni 2011 um 20 Uhr in der Johannis Kirche zu sehen sein. Welcher Johannes ist denn hier gemeint? Der Täufer, der Evangelist, der Jünger, der Seher? Der alte Name sagt es: St. Johannis babtistae (des Täufers). Damit dieser Name nicht verloren geht, gab sich eine Gruppe von Menschen, die in dieser Kirche wieder die alten gregorianischen Gesänge singt, den ehrwürdigen und historisch korrekten Namen „schola cantorum St. Johannis babtistae“.
Was erfährt man noch als Zugezogener über diesen Stadtteil? „Schbanschlauchbiedel“ heißen die „Ureinwohner“. Der Grund: Das fruchtbare Land an der Fulda lässt den Porrée, den spanischen Lauch, sowie andere Gemüsesorten und Salat prächtig gedeihen. Wenn man aber glaubt, man zöge auf ein Dorf, wird man enttäuscht. Zwar kann man noch Gemüse, Eier und Kartoffeln beim Erzeuger kaufen, es wird noch geschlachtet, es gibt auch ein paar Pferde, hin und wieder krächzt ein Hahn, ein paar Mauern aus alter Zeit umfrieden einige Grundstücke, die ehemals Herrenhöfe waren, was auf Messingschildern zu lesen ist – aber die neuen Häuser, nach dem Krieg gebaut, prägen doch das Bild des Stadtteils. Man erfährt, dass Wolfsanger durch einen schweren Angriff am 3. Oktober 1943, dem Erntedankfest, zerstört wurde, also noch vor dem 22. Oktober, an dem man Kassel bombardierte. Wenn auch das Dorf seit 1936 Teil Kassels wurde, so konnte man doch eine Dorfgemeinschaft, die in über 1100 Jahren gewachsen war, nicht zerstören. Deshalb hat man als Neubürger Wolfsangers immer wieder Begegnungen mit Menschen, die die damalige schwere Zeit nicht vergessen können. Vielleicht ist das auch ein Grund für dem Zusammenhalt der Vereine und Verbände, zu denen selbstverständlich auch die Kirche gehört. Beim Festzug im Juni soll das für alle sichtbar werden.
Wolfsanger – da spitzt man doch die Ohren: Sind da nicht früher Wölfe auf dem Anger gesichtet worden? Schön wär’s gewesen, aber leider ist dem nicht so. Ein steinerner Wolf in einem Vorgarten hält zwar fest dagegen, doch „Vulvisanger“ klingt nur so. Genau geklärt ist das Wort nicht, meine Erklärung könnte zu dem lat. Wort für „Fuchs“ (vulpes, vulpis) führen. Von da ist es nicht weit zu Vulvis-anger. Und Füchse gibt’s hier schon lange. Vor einigen Jahren hatte einer von ihnen sogar seinen Bau mitten im Ort selbst. Wenn ein Fuchs durch den Garten schnürt (z. B. durch unseren), ist das interessant, aber als einer das Lied „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ wörtlich nahm, war der Spaß vorbei. Über all das hatte damals sogar der Hess. Rundfunk berichtet.
Wohnt man längere Zeit in Wolfsanger, merkt man, dass die Johannis Kirche ein besonderes Zentrum ist. Mit ihrer zentralen Lage auf dem „Opferberg“ steht sie für den Sieg über die Heiden, den hier Bonifatius und seine Begleiter errungen haben. Neben dem „Opferberg“ erinnern auch der „Metzelstein“ und der „Osterbach“ an die alten Zeiten. „Spur der Steine“ heißt das Stück, das diese Zeit und die Geschichte Wolfsangers aufgreift und das am 19. Juni ab 17 Uhr im Stadtteil aufgeführt wird. Aber die Kirche ist nicht nur geistlicher, sondern auch kultureller Mittelpunkt im Dorf. Neben den vielfältigen typisch kirchlichen Veranstaltungen gibt es regelmäßig wechselnde Kunstausstellungen, viele Konzerte wegen der guten Akustik, Vorträge etc.
Ja, ist das nun eine alte Kirche, die da auf dem Opferberg steht? Ja und nein! Es gab – wie so oft – natürlich Vorgängerkirchen, die verfallen waren oder vom Krieg heimgesucht wurden. Was wir heute sehen, ist die Kirche von 1725, d. h. ihre Außenmauern. Auch sie brannte nach dem Angriff in 1943 völlig aus und entstand in ihrer jetzigen Form zehn Jahre später. Noch heute geben zwei steinerne Reliefs Zeugnis von ihrer Erbauung. Über dem Westportal steht eine lateinische Inschrift, die auf den Bauherrn und das Baujahr hinweist. Über dem kleineren Osteingang, inzwischen zugemauert, finden wir eine Inschrift, die auf den damaligen Pfarrer und den Baumeister hinweist:
STEH LESER, STEH UND LAS DIR DAS ZUR NACHRICHT SAGEN,
WENN DU MICH ETWAN SOLST UM MEINEN MEISTER FRAGEN,
MICH BAUTE GHEZZI FLEIS IN EINEM HALBEN JAHR
ALS GLEICH HIER VVIEDEKIND DER ZEITEN PFARRER VVAR.
WÜNSCH ABER AUCH MIT MIR, DAS DIE IN SEGEN STEHEN,
DIE SEELICH AUS UND EIN DURCH MEINE THORE GEHEN.
Einige Buchstaben, in dem Relief deutlich größer herausgearbeitet, sind in Wirklichkeit römische Zahlen. Wenn man diese addiert, ergibt ihre Summe die Zahl 1725 – also das Baujahr der Kirche. Probieren Sie es selbst einmal aus – oder noch besser: Gehen Sie durch den kunstvoll angelegten Kirchgarten mit seiner speziellen Bepflanzung zum ehemaligen Eingang für das „Oberdorf“ und haben Sie Ihre Freude an dem witzigen Einfall des Baumeisters.
Bei aller Pflege der Tradition: Wolfsanger wächst! Vor Jahren schon auf der Hasenhecke, dem Balkon Kassels mit der längsten Sonnenscheindauer, jetzt im Neubaugebiet südlich vom Grenzweg zu Ihringshausen mit den schönen Straßennamen, die an alte Flurnamen erinnern. Mir gefällt besonders der „Kinderwiesenweg“ (wenn das kein gutes Omen ist!). Man hat daneben einen kleinen, aber feinen Park angelegt. Aus flachen Feldern wurde eine bewegte Landschaft modelliert, die mit rund 350 Bäumen bepflanzt wurde, meist Obstbäumen, deren Früchte man im Herbst kostenlos ernten darf – so jedenfalls hörte man. Ein kleines Paradies für Groß und Klein und einen Ausflug wert.
Beim Schreiben dieser Zeilen merke ich, wie im Laufe der Jahre aus einem zufällig nach Wolfsanger gezogenen „Kasseläner“ ein überzeugter „Wolfsangerer“ geworden ist. Sicher werden jetzt Leser aus „Wulwesanger“ (mundartliche Version des offiziellen Namens) zu Recht monieren: Und was ist mit der Karnevalshochburg, mit dem Sonnwendfeuer, mit der Freiwilligen Feuerwehr, dem TSV Wolfsanger, mit der Kaltwasseranstalt Bad Wolfsanger (… die gab es wirklich bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, bis Bad Wilhelmshöhe uns die Kurgäste wegschnappte), was ist mit dem Verein der Heimatfreunde, der Hasenhecke, mit dem Kirchwegkreuz zwischen Wolfsanger und Ihringshausen, der Grauen Katze und dem Roten Kater, die ja auch noch zu Wolfsanger gehören? Ihr habt ja völlig Recht, aber ich gebe zu bedenken, dass ich meinen ganz persönlichen Blick auf diesen Stadtteil geworfen habe, und der ist immer subjektiv. Vielleicht genügen aber diese Zeilen, Menschen zu verlocken, Wolfsanger – gerade in diesem Festjahr – einen Besuch abzustatten. Biegen Sie an der Weserspitze rechts ab in die Fuldatalstraße, überqueren Sie die „Alte Stadtgrenze“ (so heißt eine Straßenbahnhaltestelle) und erblicken Sie rechts die Kirche von – Sandershausen? Fahren Sie einfach weiter, und auf wundersame Weise, nach ein paar Kurven, ist sie plötzlich links und ist doch – die Johannis Kirche von Wolfsanger. Das wirkt wie ein kleiner Schabernack und soll nichts anderes bedeuten als „Willkommen in Wolfsanger!“